29.04.2025

Taiwan Today

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Gefangen zwischen zwei Kulturen

01.01.1990
"Nach Taiwan zu kommen, hat mir geholfen, mich selbst mehr zu akzeptieren" - Chow Shong-wen mit seinen Schülern.
Viele junge Chinesen kommen nach Taiwan auf der Suche nach ihren "Wurzeln ", aber auch, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie kommen auf Anraten ihrer Eltern und meist schon mit einiger Erfahrung im Umgang mit der chinesischen Sprache vom Besuch einer chinesischen Schule zu Hause.

Aber häufig finden sich diese Studenten, einmal angekommen, mit einigen unangenehmen Realitäten konfrontiert. Die Studenten mögen zwar derselben Abstammung wie die Bevölkerung Taiwans sein, und es mögen in kulturellen Bereichen gewisse Gemeinsamkeiten bestehen, dennoch ist Taiwan ihnen eindeutig fremd.

Chinesische Studenten aus Übersee entdecken bald, daß sie mehr von den "fremden" Sitten angenommen haben, als sie gedacht hatten, und sich nicht notwendigerweise in Taiwan wohlfühlen. Kurz gesagt, sie erleben einen Kulturschock, wobei sie sich selbst zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen stehend wiederfinden und weder der einen noch der anderen wirklich zugehören.

Die Erfahrungen dieser Studenten sind aufschlußreich, und das nicht nur für Auslandschinesen oder die hiesige Bevölkerung, seit weite Bereiche des Problems, was es heißt, ein Auslandschinese zu sein, in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt worden sind. "Free China Review" bat Tina Wong, die selbst eine Auslandschinesin aus den USA ist, einige ihrer Altersgenossen zu befragen, welche Eindrücke sie vom Leben als Sprachstudenten in Taiwan haben. Hier Auszüge aus den Interviews:

Chow Shong-wen (周尚文) ist in Tallahassee, USA, aufgewachsen, einem Ort, an dem es für einen chinesischen Jugendlichen schwer ist, sich unbemerkt zu integrieren. Obwohl seine Eltern 1958 aus Kwangtung und Shanghai emigriert sind, ermutigten sie ihn, Englisch zu sprechen, um zu verhindern, daß er im Umgang mit seinen Altersgenossen Kommunikationsprobleme habe. Dies wurde auch dadurch besonders begünstigt, daß sie mit der Arbeit in ihrem Restaurant zu beschäftigt waren, um ihren Kindern Chinesisch beizubringen.

Während er aufwuchs, dachte Chow oft daran, irgendwo zu leben, wo er sich nicht so anders als alle anderen fühlen würde. "Ich dachte, einer der geeignetsten Plätze, den ich wählen könnte, um mich als Asiate wohlzufühlen, sei die kalifornische Universität in Berkeley, die Universität mit dem höchsten Anteil asiatischer Studenten im ganzen Land", erinnert er sich. "Ich war das, was man einen gut angepaßten Sino-Amerikaner nennen kann. Ich hatte weiße Freunde, eine weiße Freundin und einige gute Jobs in Aussicht. Ungeachtet all dessen, fühlte ich mich als Person niemals ganz akzeptiert."

Berkeley entsprach leider nicht seinen Erwartungen. Chow mußte feststellen, daß die anderen Asiaten auf ihn herabsahen, weil er in Tallahassee aufgewachsen war. Dann, während seines letzten Jahres an der Universität, wurde er durch drei Ereignisse, in die Sino-Amerikaner verwickelt waren, zutiefst verunsichert.

"Das erste, was mein Vertrauen erschütterte, war eine Änderung der Zulassungsbestimmungen für die Universität, die indirekt die Zahl der asiatischen Studenten, die sich einschreiben können, verringerte", erzählt er. "Dies erfolgte dadurch, daß stärkeres Gewicht auf den Scholastic Aptitude Test (SAT) zur Überprüfung der Begabung für ein Studium, englischen Aufsatz, und außerstudienplanmäßige Aktivitäten gelegt wurde - Gebiete, in denen die Sino-Amerikaner schwächer sind als andere ethnische Gruppen. Die Zahl der zugelassenen Sino-Amerikaner fiel plötzlich um 15 Prozent, obwohl deren Bewerbungen um 10 Prozent zugenommen hatten. Keine andere ethnische Gruppe mußte einen so drastischen Rückgang hinnehmen."

Das zweite Ereignis war gewalttätiger Natur. Eine sino-amerikanische Studentin war angeblich von ihrem weißen Freund ermordet worden. Obwohl ihr Freund die Polizei sogar zu ihrem Körper geführt hat und das Verbrechen gestand, wurde er nicht verurteilt, mit der Begründung, daß während des Geständnisses kein Anwalt zugegen gewesen sei.

Bald danach ereignete sich ein dritter Vorfall auf dem Campus, den Chow als den ansieht, der das Maß endgültig voll machte: "Ein 19-jähriges sino-amerikanisches Mädchen soll von Schwarzen, die dem Football-Team der Schule angehörten, vergewaltigt worden sein", berichtet er. "Dieses Ereignis spaltete den Campus in verschiedene Lager - Frauen, Schwarze, Asiaten und die Verwaltung. Aber zum Ende des Semesters zeigte sich deutlich, daß die asiatische Gemeinschaft weder eine Einheit darstellte noch über eine Führung verfügte. Gerechtigkeit kam nie zum Zuge. Meine sino-amerikanischen Studienkollegen schienen diese Ungerechtigkeit hinzunehmen, aber ich konnte das einfach nicht. Ich beschloß, die USA für eine Weile zu verlassen."

Chow reiste zuerst auf das chinesische Festland, wo er dreieinhalb Monate Chinesisch studierte. Aber er stellte schnell fest, daß es in Taiwan die Möglichkeit gab, mit Unterrichten Geld zu verdienen, und kam auf die Insel, um nach Arbeit zu suchen. Er studiert jetzt in Taipei Chinesisch, arbeitet nebenbei als Englischlehrer, und erhöht sein Einkommen noch zusätzlich dadurch, daß er hin und wieder als Modell in der Werbung arbeitet. Chow plant, nach seinem Aufenthalt in Taiwan, in den USA Medizin zu studieren.

"Meine Ansichten haben sich ein bißchen geändert, seit ich hier angekommen bin", erzählt er. "Nach Taiwan zu kommen, hat mir geholfen, mich selbst mehr zu akzeptieren. Ich fühle mich nicht mehr dazu verpflichtet, anderer Leute Erwartungen in bezug auf Aussehen und Verhalten zu erfüllen. Trotzdem muß ich zugeben, daß ich mich in den USA mehr zu Hause fühle. Der Vorteil in Taiwan ist, daß ich als Chinese nicht aus der Masse herausgehoben bin. Ich muß gestehen, daß ich, als ich das erste Mal nach China kam, erwartet habe, mit offenen Armen empfangen zu werden, weil ich zurückgekommen bin. Nun, obwohl ich mich integrieren konnte, hat niemand mich mit offenen Armen empfangen."

Chow ist verärgert über das, was er als Diskriminierung der hiesigen Bevölkerung zugunsten von Ausländern empfindet. Er erzählt, es gebe bestimmte Diskotheken in Taipei, die Ausländern freien Eintritt gewähren. Die Diskothekeneigner bestehen darauf, daß diese Differenzierung das Geschäft ankurbele, weil viele Chinesen im wesentlichen aus Neugierde solche Orte aufsuchen, um Ausländer zu treffen. Dennoch beklagt sich Chow darüber, daß er jedes Mal seinen Ausweis an der Tür vorzeigen muß, weil er kein "westliches Gesicht" hat.

Sam Wu (zweiter von links) mit Kollegen in der Nationalen Taiwan Universität. Auf der Suche nach Rüstzeug, um später einen Beitrag für asiatische Gemeinden im Ausland leisten zu können.

Sam Wu (吳思慕) ist ein 22-jähriger Amerikaner in zweiter Generation, der mit sehr wenigen anderen Asiaten in einem hauptsächlich von der weißen oberen Mittelschicht bewohnten Viertel aufwuchs. Seine Eltern sind beide Ärzte, und wanderten 1965 in die USA ein. "Auf der Oberschule war ich einer von vier Asiaten unter 680 Schülern", berichtet er. "Als eine so kleine Minderheit waren wir niemals die Zielscheibe irgendeiner direkten Diskriminierung - wir erweckten mehr Neugierde, als daß wir eine Bedrohung dargestellt hätten. So ziemlich die schlimmste Erfahrung für mich war, als andere Kinder in der Grundschule mir Schimpfwörter hinterhergerufen haben. Leider sind das aber gerade auch die Situationen, in denen man die Geisteshaltung der Eltern am klarsten in ihren Kindern widergespiegelt findet."

In den letzten Jahren ist die Zahl der Asiaten in Wus Heimatgemeinde merklich angestiegen. Die meisten sind Koreaner oder Taiwanesen, und fast alle sind gut bezahlte Fachleute. "Meine jüngere Schwester, die jetzt auf der Oberschule ist, hat sehr viel mehr asiatische Freunde als ich damals", sagt er. Während seiner Jahre auf dem College trat Wu verschiedenen sino-amerikanischen Studentenorganisationen bei, einschließlich der "East Coast Asian Student Union" (Gewerkschaft asiatischer Studenten an der Ostküste), bei der er die Jubiläumsausgabe zum zehnjährigen Bestehen ihrer Zeitung, der "Asian-American Spirit" (Asiatisch-Amerikanischer Geist), herausgegeben hat. Die Ausgabe enthielt unter anderem Beiträge über unangenehme Vorfälle und Belästigungen auf dem Campus, Voreingenommenheit bei der Aufnahme in Vereine, über Gewalt gegen Asiaten und eine Untersuchung über den "Minderheitenmythos", ein Denkmodell, das nach Wus Worten verhindern kann, daß Diskriminierungen zum Ausdruck kommen.

"An der Universität Harvard bemühten wir uns sehr darum, einen sino-amerikanischen Studienplan einzuführen, was uns teilweise auch gelungen ist", berichtet er. "Es wurden im Frühjahrssemester 1987 noch dazu eine Reihe von Vorlesungen gehalten, die sino-amerikanische Probleme zum Gegenstand hatten. Jetzt bin ich daran interessiert, über Sino-Amerikaner, die in Taiwan studieren, eine Untersuchung abzufassen, um daraus zu ersehen, ob sie einen Kulturschock erlebt haben. Ich bin gegenüber anderen Heimkehrern im Vorteil, weil ich hier Familie habe."

Trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen sah sich Wu mit Sprachschwierigkeiten konfrontiert, als er versuchte, sich in die Gesellschaft einzufügen. "Es ist in dieser Umgebung ein bißchen schwierig, denn ich spreche weder die chinesische Hochsprache noch Taiwanesisch fließend", erklärt er. "Ich bin in einem semi-englischen Sprachmilieu aufgewachsen. Meine Eltern verwendeten Taiwanesisch, wenn sie mit uns redeten, und wir antworteten immer auf Englisch. Jetzt ist es so, daß ich zwar verstehen kann, was die Leute in Taiwan sagen, aber ich kann in keiner der beiden Sprachen, die hier gesprochen werden, antworten."

In den USA sah sich Wu keiner direkten Diskriminierung ausgesetzt. "Das war ein Glück für mich und meine Generation, aber ich denke, meine Eltern hatten es nicht so gut", sagt er. "Sie haben niemals darüber geredet, aber ich glaube, die Diskriminierung, der sie sich ausgesetzt sahen, hat sie dazu veranlaßt, meine Brüder und mich dazu anzuhalten, technische und naturwissenschaftliche Fächer zu studieren. Auf diesen Gebieten hat man bessere Chancen, eher aufgrund seines Verdienstes als nach persönlichen Gesichtspunkten beurteilt zu werden."

Wu war häufig in Taiwan, um Verwandte zu besuchen. In diesem Jahr schließlich kam er, nach seinem Studienabschluß, zu einem ausgedehnteren, sieben Monate langen Aufenthalt, und will später in die USA zurückkehren, um seine Ausbildung in der Fächern Medizin, Physik oder Anthropologie fortzusetzen. Wu studiert vier Stunden am Tag am Sprachzentrum der "National Taiwan Normal University" Chinesisch und arbeitet gleichzeitig bei einem englischsprachigen Kunst- und Freizeit-Magazin für in Taiwan lebende Ausländer.

"Das erste, was mir in Taipei aufgefallen ist, war, daß tagsüber nur sehr wenig junge Leute auf den Straßen sind", erzählt er. "Sie scheinen sehr von der Schule in Anspruch genommen zu sein. Das zweite, was mir auffiel, war, daß das Land sehr schnell industrialisiert worden ist, auf Kosten der Umwelt und der natürlichen Ressourcen."

Wu bemerkt weiter, daß die hiesige Haltung gegenüber der Außenwelt ein primitives Fasziniertsein von allem, was aus dem Westen kommt, zu sein scheint. "Zum Beispiel feiern sie hier Weihnachten in einer oberflächlichen, materialistischen Art und Weise - natürlich, denn die Gesellschaft ist nicht christlich", erklärt er. "Die Leute hier scheinen naiver zu sein, als ich erwartet hatte. Taipei mag eine große Stadt sein, es ist aber sicher nicht das, was ich "kosmopolitisch" nennen würde.

Das ihm eigene Selbstvertrauen hat es Wu ermöglicht, immer neue Erfahrungen zu suchen und einbezogen zu werden, gleichgültig, wo er gerade lebt. Er hofft, daß sein Aufenthalt in Taiwan eine Art Katalysatoreffekt haben wird, um schneller ein tieferes Verständnis dafür zu bekommen, was es heißt, Asiate zu sein, und daß ihm das helfen wird, seine Zukunft zu planen. "Es mag mir auch ein besseres Rüstzeug an die Hand geben, das ich verwenden kann, um einen Beitrag zu leisten für die asiatischen Gemeinschaften in den USA und in anderen Ländern", fügt er noch hinzu.

Christina Zee (徐漪紋) war acht Jahre alt, als ihre Eltern von Hongkong nach Indianapolis, USA, auswanderten. Sie kam vor sechs Jahren nach Taipei und spricht fließend Chinesisch. Sie arbeitet jetzt für die CETRA, den "China External Trade Development Council" (Rat zur Entwicklung des Außenhandels der Republik China).

"Je länger ich hier bin, desto mehr habe ich das Gefühl, mit meinen Füßen auf zwei Booten zu stehen, die langsam auseinanderdriften", sagt sie. "Ich fühle mich in der amerikanischen Gesellschaft nicht ganz akzeptiert, fühle aber ebenso, daß ich in Taiwan auch niemals ganz akzeptiert werden kann. In den USA komme ich mit einzelnen Personen gut aus, aber sobald ich in einer Gruppe von Kaukasiern bin, ändert sich die Wahrnehmung und ich werde als Asiatin eingruppiert. In Taiwan werde ich bis zu einem gewissen Punkt akzeptiert, aber ich werde immer als etwas Besonderes angesehen, weil ich in den USA aufgewachsen bin."

Obwohl sie fließend Chinesisch spricht und eine gute Ausbildung hat, trifft Zee auf viele kulturelle Hemmnisse, große und kleine, die es ihr erschweren, mit der hiesigen Bevölkerung zu kommunizieren. "Etwas eher Nebensächliches wie die Körperhaltung eines Menschen kann in einer anderen Kultur sofort Unbehagen hervorrufen", führt sie aus. "Eine Mitarbeiterin erzählte mir einmal, daß sie, als sie mich das erste Mal getroffen hat, gedacht habe, ich sei arrogant und unnahbar. Ich war so überrascht! Ich hätte niemals an so etwas gedacht, aber sowohl meine Körperhaltung als auch mein sonstiges Verhalten sind amerikanisch. Chinesen neigen dazu, eine bescheidenere und mehr gebeugte Körperhaltung einzunehmen, während Amerikaner eher aufrecht stehen. Amerikaner neigen auch dazu, sich als Mittelpunkt aller Ereignisse um sie herum zu sehen."

Die 19jährige Vivien Lo (羅慧文) ist aus der Bundesrepublik Deutschland, und wie Zee findet auch sie es schwierig, mit den Chinesen in Taiwan vertraut zu werden. "Ich finde, daß die Chinesen, verglichen mit uns Deutschen, höflich und freundlich sind", sagt sie. "Sie mögen es, Komplimente zu machen und geben sich sehr entgegenkommend. Die Leute in meinem Land neigen dazu, etwas kalt zu sein. Aber es scheint immer noch so zu sein, daß die Chinesen Ausländer immer als Außenseiter betrachten."

Lo hat einen chinesischen Vater und eine deutsche Mutter und stieß auf die unterschiedlichsten Reaktionen bei den Leuten, die sie in Taiwan und zu Hause getroffen hat. "In Deutschland halten mich die Leute oft für eine 'Vollblut-Chinesin', wohingegen sie hier in Taiwan denken, ich sei Deutsche. Die meisten Leuten würden niemals vermuten, daß ich Chinesin sei", berichtet sie. Ihr dunkelbraunes Haar und ihr schöner, weicher Teint machen sie zu einer auffallenden Erscheinung. Wenn auch die Reaktionen auf ihr Aussehen manchmal verwirrend sein mögen, es hat ihr nichtsdestoweniger dazu verholfen, als professionelles Modell in Taipei Arbeit zu bekommen.

"Ich hatte nicht das Gefühl, Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, als ich in Westdeutschland aufwuchs," erzählt sie. "Manchmal riefen mir die anderen Kinder Schimpfwörter hinterher, und gelegentlich haben mich die Leute in gebrochenem Englisch angesprochen, weil sie meinten, ich sei eine Ausländerin. Aber da ich wie eine Deutsche rede und mich entsprechend kleide, werde ich im allgemeinen auch als solche akzeptiert."

Lo sagt, daß es bei den Werteschemata der Chinesen und Deutschen sowohl in materieller als auch in moralischer Hinsicht Unterschiede gibt. "In meinem Land ist das erste, worauf man spart, nachdem die Grundbedürfnisse gesichert sind, zunächst einmal Reisen, dann ein Haus und ein Auto", erklärt sie. "Zu meiner Überraschung mußte ich entdecken, daß in Taiwan an erster Stelle das Essen kommt. Die Leute hier haben auch einen ausgeprägten Sinn für ihre Verpflichtungen gegenüber der Familie, was in Deutschland nicht so offensichtlich ist, weil dort die Kinder normalerweise ihr Elternhaus verlassen, um ein eher eigenständiges Leben zu führen."

Tatsächlich allerdings ist Vivien Los Sinn für familiäre Verpflichtungen stärker, als sie zunächst zugeben will. Sie ist vor einigen Monaten nach Taipei gekommen, in der Absicht, Chinesisch zu studieren, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun, und plant einen Aufenthalt von einem Jahr, bevor sie wieder nach Deutschland zurückkehrt, um dort ihr Studium der Wirtschaft und der Chinesischen Sprache weiterzuführen. "Als meine jüngere Schwester und ich noch klein waren, hat unser Vater niemals chinesisch mit uns gesprochen", erinnert sie sich. "Aber als wir 12 Jahre alt geworden waren, stellte er einen Privatlehrer für uns und unsere Mutter ein. Er wollte wirklich, daß wir Chinesisch lernen. Aber eine Stunde Unterricht in der Woche war nutzlos. Als ich 14 war, schlug er vor, ich solle gleich nach dem Abitur nach China gehen, um Chinesisch zu lernen. Ich sagte ja, einmal, um ihn zufriedenzustellen und weil ich immerhin halb Chinesin bin."

Ironischerweise schien ihr Vater seine Meinung zu ändern, als sie in Taipei angekommen waren. Nachdem er seine Tochter einen Tag lang durch die Stadt begleitet hatte, bat er sie, wieder mit ihm nach Deutschland zurückzukehren. Er fürchtete, daß Englisch hier nicht in genügendem Maße gesprochen würde, um es ihr zu ermöglichen, alleine zurechtzukommen. "Ich sagte ihm, da ich nun einmal in Taipei sei, könne ich auch genauso gut bleiben", sagt sie. "Seit letztem September studiere ich vier Stunden am Tag an zwei verschiedenen Schulen. Ich habe vor, 2000 Zeichen zu lernen, so daß ich in der Lage bin, die Sprache wirklich lesen, sprechen und schreiben zu können."

Leopoldo Lim kommt von den Philippinen und ist mit 30 etwas älter als der Durchschnittsstudent, der in Taiwan lebt, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Er ist als eines von 12 Kindern aus Cebu aufgewachsen. Sein Vater ist Chinese und emigrierte 1928 aus Amoy, während seine Mutter aus Cebu gebürtig ist. Lim spricht Cebuano, den dortigen Dialekt, und verfügt auch über Kenntnisse in Tagalog, Englisch und Fukienesisch (einem Dialekt, der in Taiwan und der Provinz Fukien gesprochen wird), sowie in Hochchinesisch. Chinesische Bücher zu lesen, lernte er in einer chinesischen Grundschule, an der die Lehrer sowohl Hochchinesisch als auch Fukienesisch sprachen. Er hat einen Hochschulabschluß in Handels- und Rechnungswesen und hat bei einer Bank als Buchhalter gearbeitet.

Lim plant, in naher Zukunft in die USA zu gehen, um seiner Schwester und ihrem Mann zu helfen, ihre Restaurantkette zu führen. "Meine Schwester hat vorgeschlagen, daß ich zuerst nach Taiwan und dann in die USA gehe", sagt er. "Ihr Mann ist Chinese, daher meint sie, es sei besser, wenn ich Chinesisch sprechen könne."

Lim hat Taiwan viele Male besucht, aber dies ist sein erster längerer Aufenthalt. Er hat gemischte Gefühle, was Taipei anbetrifft. "Die Preise sind ziemlich hoch", sagt er. "Es ist kaum möglich, sich auch nur kleine Extras wie einen Kinobesuch zu leisten."

Auch die Integration ist schwer. "Die chinesische Gemeinschaft auf den Philippinen ist ziemlich gut integriert in die dortige Gesellschaft, aber die meisten Philippinos, die nach Taiwan kommen, ärgern sich über die Art und Weise, in der die hiesige Bevölkerung auf sie herabschaut", berichtet er.

Diese Haltung mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß in Taiwan gegenwärtig ein Mangel an Arbeitskräften herrscht und auch auf die im Vergleich zu Taiwan schlechte wirtschaftliche Situation auf den Philippinen. Taiwan braucht Arbeiter, und die Philippinos wollen Arbeit, aber es gibt keine eindeutigen Gesetze, die das Arbeiten von Ausländern in Taiwan reglementieren. Daraus resultierend, gibt es auf der Insel eine große Anzahl von Philippinos, deren Visa bereits abgelaufen sind, und die schlecht bezahlte, offiziell illegale Arbeiten annehmen. Dies ist jedoch im allgemeinen bei den chinesischstämmigen Philippinos nicht der Fall. Die meisten von ihnen sind in Taiwan, um Chinesisch zu studieren, und ihnen mißfällt die Art und Weise, in der ihre Landsleute als arm und ungebildet dargestellt werden.

"In den 60er Jahren ging es der philippinischen Wirtschaft prächtig, und die Rollen waren vertauscht." legt Lim dar. "Die Gemeinschaft der Überseechinesen auf den Philippinen hat sogar einen kugelsicheren Wagen zu Chiang Kai-sheks Schutz gestiftet. Nur, weil das wirtschaftliche Gleichgewicht sich ins Gegenteil verkehrt hat, ist das noch lange kein Grund, daß die Chinesen jetzt auf uns herabschauen, ich mag die Mißachtung, die ich in Taiwan ertragen muß, überhaupt nicht. Sobald die Leute herausbekommen, daß ich von den Philippinen bin, wenden sie sich ab, als ob sie nichts mehr von mir wissen wollen. Wäre ich aus Amerika, würden sie mir alle möglichen Fragen stellen."

Gleichzeitig sagt Lim, daß er mit dieser Haltung vertraut sei, weil auf den Philippinen die Leute auch dazu neigten, Ausländer zu bewundern. "Diese Art des Denkens ist etwas, dessen wir uns alle immer bewußt sein sollten", sagt er. "Auch wenn ich wie ein Chinese aussehe, so bin ich doch, was meine Lebenseinstellung und Werte anbetrifft, eher ein Philippino. Die philippinische Gesellschaft ist recht gemischt und unter meinen Freunden befinden sich Philippinos ebenso wie Chinesen und Mestizen."

Lim findet die Studenten in Taiwan seien sehr ernsthaft, aber auch ein wenig naiv: "Ich erwähnte einigen, die ich privat unterrichtete, gegenüber, daß ich am Flughafen gewesen sei, um mich dort von meinem Bruder zu verabschieden. Ein Student sagte mir, er sei noch nie am Flughafen gewesen! Dabei ist der doch nur eine Autostunde von Taipei entfernt. Ein anderes Mal fragte ich eine Studentin, ob sie einen Freund habe. Da errötete sie vor Verlegenheit, dabei wollte ich doch nur eine Konversation in Gang bringen."

Im letzten Sommer kam die 22 Jahre alte Justine, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, von Jakarta nach Taiwan. Sie stammt in dritter Generation von Chinesen und Indonesiern ab und hat, bevor sie nach Taiwan kam, an einer chinesischen Schule in Indonesien Chinesisch gelernt und auch Englisch an einer Dolmetscherschule studiert. Ihre Eltern, die seit sechs Jahren geschieden sind, sprechen sowohl Hakka (einen Dialekt der Region) als auch Mandarin.

Nachdem sie erfolglos versucht hatte, in Jakarta ein kleines Geschäft aufzumachen, heiratete Justines Mutter einen Mann aus Taiwan und zog nach Taipei. Justine lebt jetzt mit ihrer Mutter und jüngeren Schwester zusammen, und ihre Lebensumstände unterscheiden sich sehr von denen in ihrem Heimatland.

In Indonesien gibt es ernstzunehmende Spannungen zwischen den Chinesen und den eingeborenen Indonesiern. Diese Situation ist sowohl durch Zusammenstöße in früherer Geschichte als auch durch gegenwärtige wirtschaftliche Unterschiede entstanden. Es besteht heute ein starkes Gefälle zwischen der verzweifelten Armut der indonesischen und dem Reichtum der chinesischen Bevölkerung. "In Indonesien ist die Bevölkerung ganz kraß in Gruppen gespalten, auch wenn die Regierung verkünden läßt, daß alle sich als Indonesier fühlen sollten", sagt Justine. "Alle meine Freunde sind Chinesen und man sieht selten, daß Indonesier mit Chinesen gesellschaftlich verkehren."

Die Spannungen haben sich gar so weit gesteigert, daß alle chinesischen Schulen geschlossen wurden. Eine besonders beunruhigende Phase war in der Mitte der sechziger Jahre, als das Militär sich des Landes bemächtigte und die Regierungsgewalt, nach einem Umsturzversuch der Kommunisten, von Präsident Sukarno übernahm. "Die Machthaber ließen meine Grundschule sowie alle anderen chinesischen Schulen schließen", erzählt Justine. "Ich konnte deshalb nur wenige Jahre an chinesischsprachigem Unterricht teilnehmen, deswegen ist mein Mandarin nicht so gut."

Da sie an den Status eines Mitglieds der Oberschicht gewöhnt ist, wenn auch in einer Region voller rassischer Spannungen, klagt Justine über ähnliche störende Aspekte, wie die anderen Auslandschinesen in Taiwan. Von ihren Gesichtszügen her gleicht sie den Chinesen, deren Sprache kann sie jedoch nicht fließend sprechen. Diese Kombination kommt bei den Einheimischen nicht gut an. Die folgende Schilderung einer Situation auf dem Postamt veranschaulicht dieses:

"Ich reichte der Schalterbeamtin meine Briefe. Sie meinte daraufhin, ich solle anhand der am Fenster aufgehängten Tabellen die Gebühren selbst ausrechnen. Ich sagte, daß ich die chinesischen Zeichen nicht lesen könne und sie entgegnete barsch: 'Und warum kannst du nicht lesen?' Ich erklärte ihr, daß ich aus Indonesien komme, woraufhin sie zwar meine Briefe nahm, mich dabei aber schimpfte, weil ich nicht Chinesisch lesen kann."

Justine stellt klar, daß diese Art von Verhalten zwar nicht direkt als typisch gelten kann, sie aber doch das Gefühl hat, daß die Leute in Taiwan im allgemeinen dazu neigen, sich arrogant und unhöflich zu geben. "Wenn ich blonde Haare hätte und mich so als 'richtige Ausländerin' ausweisen würde, würde ich anders behandelt", meint sie. Aber es hat auch Vorteile in Taiwan zu sein. "Ich fühle mich hier sicherer unter Chinesen, obwohl dies vielleicht wirklich nur Einbildung ist, da in den Nachrichten ja auch so viel von Verbrechen berichtet wird. Ich habe aber tatsächlich mehr Freiheiten hier. Indonesien ist ein überwiegend moslemisches Land, und meine Familie und ich sind Christen. Trägt man modische Kleidung, deren Schnitt gar etwas freizügig ist, wird man gleich mißbilligend angesehen. Man kann das also zwar tun, fühlt sich aber wegen dieser Reaktionen der anderen sehr unwohl dabei. In Taiwan gibt es wenigstens nicht so viel Druck, sich anzupassen."

Justine hatte auch die Gelegenheit, hier Freundschaft mit einem indonesischen Studenten zu schließen, der nicht chinesischer Abstammung ist. Dies erwies sich als ein Weg, an Lebenserfahrung zu gewinnen, den zu gehen ihr in ihrer Heimat unmöglich wäre. Sie sagt: "Außerhalb unseres Heimatlandes können wir sehen, daß wir gerade durch unsere indonesische Kultur Gemeinsamkeiten haben, die uns miteinander verbinden."

(Deutsch von Susanne Göße)

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